12. Mai 2020
Sensual Food.
Das Essen wieder genießen lernen.
Wieder mehr selbst zu kochen, die Freude der kleinen kulinarischen Genüsse zu entdecken, vielleicht sogar selbst Brot zu backen – all das gewinnt in letzter Zeit immer mehr an Stellenwert. Zu lange schon aßen wir meist nur nebenbei und zwischendurch. Der Trend Sensual Food, der das bewusste Genießen zelebriert, trifft daher genau den (Geschmacks-)Nerv der Zeit.
Als Sie das letzte Mal ein Butterbrot gegessen haben, haben Sie da das Krachen der knusprigen Brotkruste gehört, sich den feinen Mehlstaub von den Lippen geleckt, vielleicht den bitteren Geschmack eines zerbissenen Kümmelsamens auf der Zunge erkannt, der im Mund schmelzenden Butter bis in die letzten Poren des Teigs nachgespürt? Oder haben Sie es schnell als hastiges Abendbrot hinuntergeschlungen, möglicherweise nebenbei die neuesten Nachrichten auf Ihrem Smartphone lesend? Wenn Sie sich jetzt „ertappt“ fühlen, geht es Ihnen wie vielen in unserer oft recht schnelllebigen Gesellschaft: Essen und dessen Zubereitung sind oftmals zur Nebensache geworden.
Vom verlorenen Geschmack
Darunter leiden wir gleich mehrfach. Zum einen nimmt man mehr zu sich, wenn man beim Essen durch andere Tätigkeiten abgelenkt ist, da das Sättigungsgefühl langsamer einsetzt. Zum anderen wird es immer schwieriger für uns, verschiedene Geschmacksrichtungen wahrzunehmen und unterscheiden zu können. Mitschuld sind daran auch die rund 3000 künstlichen Aromen, die zwar nach Vielfalt klingen, aber viel mehr zu einem standardisierten Einheitsgeschmack vieler Lebensmittel geführt haben. Eurotoques, die Union europäischer Spitzenköche, sieht die Lage schon derart dramatisch, dass sie ehrenamtlichen „Geschmacksunterricht“ an Schulen gibt. Verlieren wir langsam den Geschmack?
Sensual Food als kulinarische Entschleunigung
In all dem macht sich ein Gegentrend bemerkbar: Sensual Food bezeichnet das bewusste Wahrnehmen dessen, was wir essen. Tätigkeiten bewusst auszuüben verschafft nämlich Befriedigung – Sensual Food ist daher ein Plädoyer gegen das Multitasken, das auch unsere Esskultur vereinnahmt hat. Ähnlich wie bei New Flavouring wird Essen (wieder) zum Erlebnis, das mit allen Sinnen „ausgekostet“ wird. Denn Schmecken ist nicht nur höchst individuell, sondern auch von der Situation abhängig. Doch nicht nur das Auge isst mit: So fand eine Studie der Universität Manchester heraus, dass wir bei Lärm Salziges und Süßes schwieriger erkennen. Kein Wunder, dass in der Großstadt New York schon in den frühen 2010er-Jahren die Idee zu „silent meals“ geboren wurde. Restaurants wie das „Eat“ in Brooklyn lassen die Tradition des schweigsamen Essens, die etwa in Klöstern zum Alltag gehört, aufleben.
Bewusstes Schmecken im Fokus
Es gibt also definitiv eine wachsende Sehnsucht nach „ursprünglichen“, authentischen Geschmackserlebnissen. Weg von Fake-Aromen hin zu mehr Achtsamkeit. Und diese Sehnsucht entdeckt auch die Lebensmittelindustrie nach und nach für sich. Die Hersteller von Genussmitteln haben das Potenzial von Sensual Food als Erste erkannt. Durch gezielte Aufwertung haben sie Wein, Schokolade und Kaffee einen neuen Nimbus verpasst. Rund um die Produkte entsteht ein vielfältiger Genuss-Kosmos. Besonderheiten der Produkte werden betont (Stichwort Lagenweine) und Empfehlungen ausgesprochen, wie man etwas genießen soll (Stichwort Weinthermometer und -gläser). Mindestens ebenso wichtig: Durch ihre ausführlichen Geschmacksbeschreibungen arbeiten diese Produzenten an einer Sprache, die Geschmackserfahrungen nachvollziehbarer machen. Wie wir etwas in Worte fassen, beeinflusst schließlich, ob und wie wir etwas bewusst wahrnehmen.
Neues Qualitätsbewusstsein dank Sensual Food
Dass man mehr auf die Qualität achtet, ist ein begrüßenswerter Nebeneffekt von Sensual Food. Nie wird sich „Analogkäse“ gleichermaßen genießen lassen wie das „Original“ aus einer traditionellen Käserei oder gesüßtes, aromatisiertes Fruchtjoghurt so wie unverarbeitetes Naturjoghurt. Somit beeinflusst Sensual Food indirekt Konsumentscheidungen. Man hinterfragt Inhaltsstoffe und deren Herkunft sowie Verarbeitung. Das bewusste Schmecken weckt also noch eine ganz andere Art von „Bewusstsein“, nämlich das Verantwortungsbewusstsein. „Du bist, was du isst“ wird daher auch von Sensual Food wieder einmal bestätigt.
10 Tipps, um das Genießen (wieder) zu lernen:
- Konzentrieren Sie sich voll und ganz auf das Essen und beseitigen Sie mögliche Ablenkungen.
- Nehmen Sie sich Zeit zum Essen und lassen Sie beispielsweise Schokolade langsam im Mund zergehen.
- Fragen Sie sich während des Essens, was Sie schmecken, riechen, fühlen und hören, und versuchen Sie, das Erlebnis zu verbalisieren.
- Gehen Sie bewusster einkaufen, nehmen Sie die Farbe und den Geruch der Lebensmittel wahr und nutzen Sie Kostproben.
- Streichen Sie verarbeitete Produkte von Ihrem Einkaufszettel und Speiseplan.
- Kochen Sie so viel wie möglich selbst.
- Seien Sie offen für Neues und probieren Sie unbekannte Lebensmittel, Zubereitungsweisen und internationale Länderküchen.
- Trainieren Sie Ihren Geschmackssinn, indem Sie mit intensiven Aromen wie Zimt starten und sich langsam zu feineren Nuancen vortasten.
- Machen Sie kleine Blindverkostungen für sich selbst und Ihre Familie. Lassen Sie dabei Industrieprodukte gegen ursprünglichere Lebensmittel oder verschiedene Sorten oder Marken gegeneinander antreten.
- Öffnen Sie sich bewusst für den Genuss und erlauben Sie es sich, zu genießen!